ÖGUT im DIALOG

„YES, WE CAN!“ - Wärmeversorgung der Zukunft mit Anergienetzen

Bei ÖGUT im DIALOG beantworten ÖGUT-MitarbeiterInnen und andere AkteurInnen im Gespräch mit der ÖGUT-News-Redaktion „heiße" Fragen, bereiten komplexe Themen verständlich auf und geben einen Einblick in Projekte und Menschen der ÖGUT.

Projekt: AnergieUrban – Stufe 1: Die Stadt als Energiespeicher

"Wir haben es uns zum ersten Mal großflächig real angeschaut und es geht sich aus". So beginnt das Gespräch mit Bianca Pfefferer und Gerhard Bayer. Beide sind MitarbeiterInnen der ÖGUT, arbeiten im Bereich innovatives Bauen und Energie und haben sich gemeinsam mit zukunftsfähigen Lösungen der Wärmeversorgung beschäftigt. Sie haben mit der ÖGUT-News-Redaktion über Facts, Ergebnisse und Geschichten aus der Zusammenarbeit gesprochen und wie diese mit dem Ziel der Dekarbonisierung bis 2040 laut österreichischem Regierungsprogramm zusammenhängen. Lesen Sie mehr dazu im neuen Format ÖGUT im DIALOG.

Über das Projekt

AnergieUrban wurde im Sommer 2019 von BMK, Stadt Wien und Österreichischem Städtebund beauftragt. Das Ziel war zu überprüfen, ob eine großflächige nachhaltige Wärmeversorgung mit einem Solar/Abwärme/Geothermie-Tiefenspeicher/Wärmepumpen-System, verbunden mit Anergienetzen (Niedertemperatur-Wärmeverteilnetzen) in der bestehenden Stadt möglich ist. Weiters wurde ermittelt, inwieweit die Nutzung öffentlicher Flächen wie Gehsteige, Parkplätze Fahrbahnen und Grünflächen für Erdwärmesonden einen wesentlichen Beitrag zur Machbarkeit sowie zur Senkung der Investitionskosten bringen kann. Die ÖGUT war dabei Projektkoordinator. Projektpartner: TU Wien (Institut für Raumplanung), Geologische Bundesanstalt und Zeininger Architekten. Mehr Informationen zum Projekt

Großer Puzzle-Stein statt Nischenlösung

Beginnen wir am Ende, wo Ziele und Ergebnisse des Projekts zueinanderfinden. "Unser Ziel war, die Möglichkeiten des fossilfreien Heizens in der Stadt aufzuzeigen und dies haben wir mit dem Projekt erreicht. Die Ergebnisse zeigen, dass eine großflächige Wärmeversorgung mit Anergienetzen möglich und leistbar ist. Voraussetzung ist, dass zuvor der Gebäudebestand umfassend saniert und der Heizenergiebedarf stark reduziert wird."

Bianca Pfefferer und Gerhard Bayer sehen des Projekt als „großen Puzzle-Stein für das Phasing-Out von Erdgas in Wien, denn die Transformation des Gebäudebestandes ist bis heute eine große Herausforderung".

Anergienetze haben in Wien und allen Städten im gemäßigten Klima großes Potenzial. "Wir haben die technische Machbarkeit über große Gebiete festgestellt. Wenn sich mehrere Häuser oder Häuserblöcke zusammenschließen, dann wird es für alle Beteiligten billiger und das System ist technisch einfacher umzusetzen. Denn ein Häuserblock hat eventuell mehr Solarpotenzial als er selbst benötigt, dafür vielleicht zu wenig Speicherpotenzial im Erdreich und beim Nachbarblock ist es genau umgekehrt." Auch geeignete Bohrflächen seien ungleich verteilt, Überschüsse und Mangel glichen sich bei einer großflächigen Vernetzung besser aus.

Anergienetze im Faktencheck

Als Argumente gegen Anergienetze werden oft eine längere Bauzeit, Baustellenlärm und das Hauptargument Kosten genannt. „Wir haben dargestellt, dass Heizen mit Anergie im Vergleich zu Erdgas über 20 Jahre ähnlich hohe Vollkosten verursacht", erklärt Bianca Pfefferer. Hohe Anfangs-Investitionskosten werden durch niedrige Betriebskosten wettgemacht. Das System amortisiert sich nach 20 Jahren im Vergleich zu Gas, die Lebensdauer der Erdwärmesonden liegt bei 60-70 Jahren.

Herausstechendes Merkmal von Anergienetzen ist, dass man nicht nur heizen, sondern auch mit minimalstem Energieaufwand moderat kühlen kann – ohne ein zusätzliches System zu benötigen. Ein Gewerbebetrieb kann z.B. das Anergienetz als Kühlmedium nutzen und seine normale Klimaanlage damit betreiben, dafür mit einem viel besseren Wirkungsgrad, was den Stromverbrauch minimiert. Die Abwärme wird in die Erde zurückgeliefert, die man im Winter wieder rausholt, womit sich der Kreislauf schließt. „Es ist eine Beziehung von beiderseitigem Nutzen, wenn sich Gewerbebetriebe anschließen", so Gerhard Bayer. „Dem Erdreich wird im Sommer wieder genau so viel Wärme zugeführt, wie im Winter entzogen wurde. Die Erdtemperatur bleibt damit im Durchschnitt gleich", ergänzt Bianca Pfefferer.

„Die ersten politischen Schritte wurden gesetzt." Im Neubau sei in Wien durch die Definition von Klimaschutzgebieten in den Energieraumplänen mehrerer Bezirke bereits vorgeschrieben, dass fossilfreie Heizungssysteme eingebaut werden müssen. Dies werde künftig noch auf weitere Gebiete in Wien ausgeweitet.

„Erdgas wird noch immer als bequemstes Heizsystem angesehen, dabei gibt es mehrere Alternativen", erklären Bianca Pfefferer und Gerhard Bayer. „Von diesen stechen Anergienetze gegenüber den anderen positiv heraus." In vielen Städten sei es politischer Konsens, dass das Heizen mit Holzbiomasse in dicht bebauten Stadtgebieten nicht die erste Wahl sein sollte, wenn es andere Möglichkeiten gibt. Luftwärmepumpen seien wegen der geringen Investitionskosten eine billige Alternative, jedoch verursachen diese Lärm und benötigen im Betrieb deutlich mehr Strom als Erdwärmepumpen. Dies werde vor allem im Winter zum ökologischen Problem, weil dann der Wärmebedarf und somit auch der Stromverbrauch besonders hoch sind.

Wer investiert, wer betreibt Anergienetze? Gerhard Bayer fasst es zusammen: „Anergie-Projekte können von den HauseigentümerInnen selbst oder über externe Wärmelieferer (Contractoren) finanziert und betrieben werden. Die MieterInnen zahlen dabei pro verbrauchter Wärme- bzw. Kältemenge und oft noch einen Grundpreis pro m² Wohnfläche."

Es braucht einen konkreten Ausstiegsplan aus fossilem Gas

„Wichtig ist, dass es einen mittel- und langfristigen Plan mit Sanierungsvorgaben für 2030 und 2040 gibt, damit die Leute heute wissen, dass die politische Ansage der Dekarbonisierung bis 2040 ernst gemeint ist." Dafür brauche es einen konkreten Ausstiegsplan für fossile Energien auf Bundesebene. GebäudeeigentümerInnen müssen erkennen: "Ich komme um das Thema Dekarbonisierung nicht herum. Dann setze ich das mit der nächsten Sanierung lieber gleich um und warte nicht erst bis 2039." Für Technologien mit Lock-In Effekten – wie eine Neu-Investition in gasbetriebene Heizsysteme – bleibe wirklich keine Zeit mehr.

Konkrete Empfehlungen an die Politik – teils an Stadtregierungen, teils an die Bundesregierung – wurden im Endbericht zusammengefasst. Parkplätze, Gehsteige, Fahrbahnen etc. sollen für Bohrungen von Erdwärmesonden nutzbar gemacht werden. „Nach der Errichtung der Erdwärmebohrungen können diese Flächen wie zuvor normal genutzt werden. Idealerweise sollten die Bohrungen in andere, notwendige Bauarbeiten integriert werden."

„Die Stadt kann dabei auch initiativ werden und selbst der Contractor sein. Sie kann zu errichten beginnen und versuchen, die einzelnen Gebäude(-EigentümerInnen) dafür zu gewinnen, sich anzuschließen. Rechtliche Rahmenbedingungen müssen eine Motivation für den Umstieg schaffen. Wenn Erdgas ein Auslaufmodell ist, wird das Interesse der GebäudebesitzerInnen an fossilfreien Lösungen rasch steigen." Es müsse anschaulich kommuniziert werden, dass der Einbau einer Gasheizung im Jahr 2025 kritisch zu hinterfragen ist, wenn im Jahr 2040 – also 15 Jahre später – kein Erdgas mehr fließen wird.

International könne sich Österreich etwas vom Ausbau der Anergienetze im Neubau und bei Bestandsgebäuden in der Schweiz abschauen (z.B. Anergienetz Zürich, Familienheim-Genossenschaft (FGZ))

Interdisziplinarität braucht Koordination

Bianca Pfefferer und Gerhard Bayer von der ÖGUT koordinierten das Projekt; gemeinsam mit dem Konsortium wurden zwei Testgebiete analysiert. Die Projektpartner ermöglichten durch ihre Beiträge der unterschiedlichen Fachdisziplinen GIS-Datenverarbeitung, Stadtplanung, Geologie und Energieplanung die Analyse, Bewertung und schließlich Ausarbeitung von Empfehlungen im Projekt.

„Wir mussten uns am Anfang gegenseitig die Fachbegriffe erklären, weil es nicht selbstverständlich ist, dass alle gleich verstehen, worüber die RaumplanerInnen und GeologInnen sprechen. Das war ein wichtiger Teil der Projektarbeit", so Gerhard Bayer. Es brauche etwas Zeit, um zwischen Begriffen wie „Erdspeicherkapazität", „Wärmemenge" und „GIS-Layer" eine gemeinsame Sprache zu finden. Interdisziplinäres Arbeiten erfordere außerdem ein Grundvertrauen in die Expertise des Partners, da es unmöglich sei, sich vollkommen in die Fachwelt des anderen einzulernen. „Dieses Grundvertrauen und der respektvolle Umgang mit dem Unwissen der anderen war im Team immer gegeben und hat maßgeblich zum Gelingen des Projekts beigetragen."

Offen Fragen

Es gibt natürlich noch einige offene Fragen wie zB die Optimierung der Gesamtökobilanz von Anergienetzen sowie zahlreiche rechtliche Fragen auf Ebene der Stadtverwaltungen – diese möchte das Konsortium im Rahmen von Folgeprojekten beantworten.

Das Interview mit Bianca Pfefferer und Gerhard Bayer wurde am 20. Juli 2020 in der ÖGUT durchgeführt.

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